Der französische Präsident ist ein Meister der Selbstinszenierung. Unlängst hat er mit kriegerischem Vokabular den Kampf gegen den Untergang Europas angekündigt. Er sieht sich in der Rolle des Retters.
Der französische Präsident Emmanuel Macron liebt die Machtdemonstration. Eine solche war seine Europa-Rede an der Sorbonne am Donnerstag voriger Woche. Eine Stunde und 48 Minuten dauerte der Kraftakt, der dem Publikum wohl mehr abverlangte als dem in die Dauerrede verliebten Präsidenten. Das Ende seiner Ansprache leitete er mit einer Entschuldigung ein: «Mesdames et Messieurs, ich war zu lang, und ich bin mir dessen bewusst, aber es gäbe noch so viele Dinge zu sagen.» Und er setzte die Rede fort, indem er aufzählte, was er alles noch hätte erwähnen müssen.
Es war eine Machtdemonstration vor handverlesenem Publikum, das fast zwei Stunden zum Zuhören und Stillsitzen verurteilt war und dem es ratsam erscheinen musste, sich nicht von den vielen Kameras beim Schlafen erwischen zu lassen. Europa sei eben ein Gespräch, das nicht aufhöre, erklärte Macron am Ende seines Monologs. Es klang etwas süffisanter, als er es vielleicht beabsichtigt hatte.
Von Gespräch jedoch konnte keine Rede sein. Wie ein Feldherr stand er auf der Bühne der Sorbonne, es war, als dirigierte er eine imaginäre Armee. Denn ernst war, was er zu sagen hatte. Doch zunächst spannte er die Zuhörer während fünfzehn Minuten auf die Folter und skizzierte, was in den sieben Jahren nach seiner letzten Europa-Rede erreicht worden ist, dann erst kam er zur Sache. Gravitätisch und ohne nähere Begründung hielt er fest, «dass unser Europa heute sterblich ist. Es kann sterben. Es kann sterben, und das hängt allein von unseren Entscheidungen ab.»
Ein weiteres Dutzend Mal sollte er in den restlichen neunzig Minuten die Todesgefahr für Europa heraufbeschwören. Er wiederholte es so oft, dass Europa als klinisch tot erschien. Ungefähr so tot wie die Nato, von der Macron 2019 im Magazin «The Economist» behauptet hatte, sie sei hirntot. Macron ist der Totengräber vom Dienst. Nichts liebt er mehr, als Institutionen für halb-, schein- oder ganz tot zu erklären.
Nun war also Europa an der Reihe. Aber Macron wäre ein schlechter Feldherr, wenn er nur die Gefahr, aber nicht auch das Rettende erkennen würde. Er ist gewiss ein begabter Redner. Der französische Publizist Pascal Bruckner spottet über ihn, er stehe dem Ministerium des Wortes vor. Doch Macron ist vor allem ein begnadeter Selbstdarsteller. Und der Stern seines Egos leuchtet umso heller, je düsterer die Zeiten und je sinisterer die Gefahren sind. Europa sei sterblich? Weiss Gott, aber nicht, solange ein Macron heroisch an Frankreichs Spitze steht.
Im letzten März gab der Präsident ein bemerkenswertes Exempel seiner Kunst der Selbstinszenierung, als ahnte er da schon, mit welchen Zumutungen er seine Landsleute und ganz Europa aufschrecken würde. Eine Fotografie zeigte ihn, wie er, das Gesicht verkniffen, auf einen Punchingball eindrischt, der Bizeps unter dem prallen T-Shirt wölbt sich mächtig auf, und die Adern am rechten Unterarm sind gefährlich angeschwollen.
Die Botschaft war deutlich genug. Die Zeiten sind schwierig, aber Emmanuel Macron ist bereit, den Kampf aufzunehmen. Mag im Kreml ein Macho regieren, der sich gern in martialischen Posen inszeniert, im Élysée-Palast wohnt auch einer, der überdies nicht nur posiert, sondern durchtrainiert ist. Sein Publikum an der Sorbonne konnte den unter Hemd und Anzug versteckten Bizeps nicht sehen, aber sie hatten das Bild gewiss noch vor Augen. Mochten auch sie selber verzagt sein angesichts der geschilderten Gefahren, ihr Präsident war es sicherlich nicht.
In der etwas mehr als hundert Minuten dauernden Rede kamen nur zwei Schlüsselwörter häufiger vor als «sterben». Das eine war «Schlacht» bzw. «Kampf», das andere lautete «Macht» bzw. «Gewalt». Das Bild des boxenden Präsidenten war die präzise ikonografische Vorwegnahme seiner Rhetorik. Kraftvoll und kampferprobt inszenierte sich Macron beim Training, auch wenn er nur, einem Don Quijote gleich, gegen einen Boxsack haute.
Nun kann man sich lustig machen über die Amerikaner, die schon sehr vielen Dingen den Krieg erklärt haben, etwa dem Drogenhandel, dem Klimawandel oder dem Terror. Noch keinen dieser Kreuzzüge hat man gewonnen. Oder man kann Putin dafür verachten, einen Krieg zu führen, ohne ihn auch Krieg zu nennen. Oder man kann Macron verlachen, dass er als Boxer in die Schlacht zieht, um das – nach seiner Diagnose – moribunde Europa zu retten.
Immerhin muss man Macron zugutehalten, dass er, ungeachtet der kriegerischen Attitüde seiner Rede, nicht nur Floskeln verbreitet. Seine Rede enthielt auch ein paar bemerkenswert richtige und einige bemerkenswert brisante Beobachtungen. Von geradezu philosophischem Format ist die Feststellung: «Wir Europäer sind der Kontinent, die Zivilisation, die ohne Zweifel den Zweifel erfunden hat.» Vermutlich stimmt das nicht, aber es klingt gut. Die Vorstellung einer von Zweifeln zerfressenen Gesellschaft hat jedenfalls etwas tragisch Erhabenes.
Im Kampf um Zivilisation und Demokratie sind das allerdings schlechte Voraussetzungen. Wie soll man verteidigen, woran man zweifelt? Gemach, Macron weiss Rat. «Man darf nie vergessen. Wir sind nicht wie die anderen», lautet sein präsidentielles Dekret. Es gelte darum, «eine bestimmte Idee des Humanismus zu verteidigen». Und das sei wiederum eine Frage des Überlebens, ein «existenzieller Kampf».
Was aber heisst anders als die anderen? Und wer sind «die anderen»? Wer wir sind, umschreibt Macron so: «Von Paris bis Warschau, von Lissabon bis Odessa haben wir ein einzigartiges Verständnis von Freiheit und Gerechtigkeit.» Das ist sehr idealisierend gedacht und übergeht geflissentlich jene ideologischen Auseinandersetzungen, von denen die innereuropäische Dynamik angetrieben wird. Wer die anderen sind, von denen sich die Europäer so fundamental unterscheiden, sagt Macron nicht. Man hat die Wahl zwischen bösen Mächten, Islamisten, Schurkenstaaten. Oder einfach alles, was nicht Europa ist.
Auch diese Konstruktion eines scharfen Gegensatzes zwischen einem imaginären, etwas fadenscheinig konstruierten Wir und allen anderen gehört zu der kriegerischen Rhetorik. Es soll Zusammengehörigkeit und Einzigartigkeit da suggerieren, wo gerade dies alles andere als selbstverständlich ist. Denn die im Humanismus der Aufklärung begründete europäische Identität, von der Macron so beseelt und feurig spricht, ist weder konstitutiv für Europa noch ist sie ein europäisches Alleinstellungsmerkmal. Man trifft den aufgeklärten Humanismus auch in anderen Weltgegenden an.
Mag Macrons Rhetorik auch kriegerisch gegen dunkle Mächte gerichtet sein, seine politische Praxis gehorcht ihrerseits den Gesetzen der Machtpolitik. Macron ist durch und durch ein Etatist. Von der Verteidigung über die Erziehung bis zur Kultur und hin zur Industriepolitik sollen europäische Behörden zentralistisch durchregieren. Frankreich mit Paris in seinem Zentrum ist das grosse Vorbild. Macron verheimlicht nicht, was er im Innersten denkt. «Über Europa zu sprechen, heisst in meinen Augen immer auch über Frankreich zu sprechen.»
Er nimmt sich noch nicht einmal die Mühe, das Verdikt zu erläutern. Vielmehr wiederholt er es am Schluss seiner Rede in der Kurzversion: «Vive l’Europe! Vive la République et vive la France!» So viel Patriotismus muss selbst in Zeiten der supranationalen Institutionen gestattet sein.
Emmanuel Macrons Europa-Rede ist darum auch eine innereuropäische Machtdemonstration. Frankreich stellt das Modell dar für Europa. Frankreich ist Europa. Und Frankreichs Präsident tritt als Retter des Kontinents hervor. Er formuliert die Diagnose: Der Kontinent ist sterblich, er ist gefährdet und im Niedergang begriffen. Und er verordnet einen ganzen Katalog von Therapien.
Nur eine Therapie nannte Macron nicht, die er gewiss für die beste hielte: Wenn Frankreich so viel bedeutet wie Europa, müsste dann nicht der französische Präsident auch der Präsident Europas sein? Macron ist, man kann es nicht anders sagen, von napoleonischem Sendungsbewusstsein beseelt. Man weiss es seit dem ersten Tag seiner Präsidentschaft, als er für seine Siegesrede über den Innenhof des Louvre schritt: Im Dunkel der Nacht, verfolgt nur von Kameras und zum Klang der europäischen Hymne, ging er einsam über den Cour Napoléon.